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Residenz Flausen Künstlerische Forschung Theater im Ballsaal Bonn

Flausen – Logbuch 1

Vorrede

Die Geheime Dramaturgische Gesellschaft (GDG) ist eine 13-köpfige Gruppe von professionellen Gesprächsanstifter:innen, die Dialog, Austausch und die Inszenierung von “Gesprächsarchitekturen” als künstlerische Praxis begreift. Wir leben in ganz Deutschland, arbeiten verstreut, oft mit digitalen Tools. Gemeinsame Präsenzzeit haben wir in unterschiedlich großen Besetzungen auf Festivals und Konferenzen. In den letzten Jahren haben wir so eine wiedererkennbare eigene Ästhetik entwickelt.

Die Flausen Forschungsresidenz am Theater im Ballsaal Bonn gibt drei von uns (Merle Mühlhausen, Willi Wittig und Stephan Mahn) den Freiraum, stellvertretend für die GDG, fokussiert am Kernthema unserer Arbeit zu forschen und dieses künstlerisch weiterzuentwickeln. Da wir nur zu dritt sind, teilen wir im wöchentlichen Logbuch unsere Erfahrungen mit den Kolleg:innen der GDG.

Der erste Brief, 30.06.2022

Liebe Geheimdramaturg:innen,

liebe Anna, liebe Phine, liebe Luise, liebe Saskia, liebe Petra, lieber Conni, lieber Vincent, lieber Jonas, lieber Tobi, lieber Robert,

seit nun mehr sieben Tagen haben wir unser BASISLAGER (Basislager, das: wachsende Feedback- und Dokumentationsinstallation, Ort für Begegnungen, Gespräche und Ausgangspunkt unserer gedanklichen Bewegungen innerhalb der Forschungsresidenz) im Probenraum des Theaters im Ballsaal in Bonn – Bad Godesberg aufgeschlagen.

Nun möchten wir euch gerne – etwas ausführlicher als auf unserem Instagram Kanal – an unseren Denkbewegungen der letzten Tage teilhaben lassen. Los gehts!

„In welche Einzelteile lässt sich ein Gespräch zerlegen?“

Ein bisschen was von unserer Arbeit habt ihr am Rande ja schon mitbekommen: Am Montag haben wir Anna, Conni und Vincent bei einem Sprachziergang (Sprachziergang, der: Gesprächsformat bei dem einander zugeloste Telefonierende zu einem Thema miteinander sprechen) gefragt, was für euch „Gesprächsarchitekturen“ sind, was ihr von uns, die euch hier in Bonn stellvertreten, erwartet und welche Parameter ihr bei unserer gesprächsgestaltenden Arbeit für wichtig erachtet. Dabei kam heraus: Unsere Gesprächsformate setzen sich immer mit Regeln und ihrer Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit auseinander, mit dem Innen und Außen von physischen und sozialen Räumen sowie dem Zusammenwirken von Orten, Objekten und den darin agierenden Menschen. Wir haben versucht, diese Spannungsfelder als Kreuzdiagramme zu visualisieren, um nächste Woche konkrete Situationen untersuchen und analysieren zu können – natürlich in dem Bewusstsein, dass ein zweidimensionales Diagramm nur ein Fragment davon abbilden kann.

In unserer Publikation (Werbeblock: KAUFT UNSERE PUBLIKATION HIER!) steht „Gesprächsarchitekturen“ wären „ein praktisches Nachdenken über die räumlichen Bedingungen, Statiken und Atmosphären von gerahmten, aber letztendlich unkontrollierten Gesprächssituationen“ (Heft No 2 „Räume“, S.8). Da wird schon deutlich, dass unsere Formate einem Prozess der ständigen Wandlung und Weiterentwicklung unterworfen sind. Aber was bedeutet es genau für unsere Arbeit? Wir haben in der Publikation auch behauptet, unsere Gesprächsformate funktionieren darüber, die Charakteristika von informellen Gesprächssituationen in andere Situationen (damit ist meistens der Kontext des Theaters oder Festivals gemeint) zu übertragen. Dieser Beschreibung haben wir drei hier in Bonn noch einen Gedanken angefügt: Das „Große Fressen“ zum Beispiel (Große Fressen, das: Format, bei dem die Teilnehmer:innen an einer Tafel zusammenkommen, um zu diskutieren), bedient sich nicht an informellen Situationen, sondern überlagert das Regelsystem des Festivals oder des Veranstaltungsortes mit demjenigen des Festessens mit demjenigen des Nachgesprächs. Hier entsteht keine binäre Differenz zwischen informell (Alltag) und formell (Regeln der hochkulturellen Instiution), sondern eine vielschichtige Überlagerung der Regelsysteme, die mit kulturellen Praktiken einhergehen. Alle von euch, die den Sprachziergang verpasst haben, laden wir ein, die Umfrage aus dem Arbeitskanal auszufüllen.

Nächste Woche verbringen wir zwei ganze Tage mit unserem Mentoren Alper Kazokoglu von Umschichten, während derer wir ausprobieren wollen, wie die räumliche Gestaltung auf unsere „Gesprächsarchitekturen“ Einfluss nimmt.

„Wir haben ja immer wieder Wände.“

Nach unseren Sprachziergängen mit euch und den damit einhergehenden Fragen zum Raum haben wir beschlossen, uns noch einmal mit Raumtheorien auseinanderzusetzen. Ausgehend von der Lektüre verschiedener Theoretiker:innen (Ulrike Haß, Martina Löw, Homi Bhabha, Marc Augé, Esther Pilkington, Brian O’Doherty und Benjamin Wihstutz) haben wir uns mit der Auswirkung von Architektur auf Blickrichtungen- und Achsen im Theater, den raumsoziologischen Grundlagen von gesellschaftlichen Räumen der Versammlung, dem dritten Raum als Austragungsort von (kultureller) Differenz, den spät-kapitalistischen Nicht-Orten, der Überschreibung von öffentlichen Räumen, der scheinbaren Neutralität von zeitgenössischen Ausstellungsräumen und dem Theater als Heterotopie beschäftigt. Puh! Ihr findet unsere Textsammlung bei Interesse in unserer Nextcloud unter Projekte -> 2022 -> Flausen -> Residenz -> Recherchematerial.

Die Lektüre und Diskussion der verschiedenen theoretischen Impulse hat uns dazu gebracht, unsere bisherigen GDG Formate auf ihre jeweiligen Raum-, Orts- oder Architekturbegriffe hin zu überprüfen. Mit welchen theoretischen Konzepten könnte man unsere künstlerische Praxis versuchen zu beschreiben? Schaffen wir mit dem BASISLAGER einen Ort in einem anderen Raum oder funktioniert unsere wachsende Installation über das Spacing, die Umbenennung von bereits existierenden Räumen, Objekten und Materialien? Wie markieren wir als Gesprächsanstifter:innen unser „rhetorisches Territorium“? Liegt das künstlerisch-performative Potential des BASISLAGERS in der Gefährdung der normativen Ordnung des Raumes? Können und wollen wir uns Strategien der „Veredelung“ von Artefakten und deren Beziehung untereinander aus dem musealen Kontext der Bildenden Kunst „abschauen“ und in Zukunft für unsere eigene Arbeit nutzen? Ist nicht am Ende alles eine Frage der Rahmung? Und sollten wir am Ende eines Festivals unser BASISLAGER in einer Variation des Formats „Vernissage“ präsentieren? Müssen wir noch klarer kommunizieren, dass unsere Formate immer die Differenz zwischen Wunsch und Realität verhandeln und damit eine materialisierte Sehnsucht nach der Utopie (das Theater als Ort des Austauschs) sind? Der Begriff der „Gesprächsarchitektur“ bleibt auch nach den ersten sieben Tagen der Forschungsresidenz ein Suchbegriff, dem wir uns in den nächsten Wochen weiter annähern werden. Festzuhalten ist, das eine „Gesprächsarchitektur“ nicht ohne die Wahrnehmung von Menschen existiert, es also das „dazwischentreten eines Menschen benötigt“, um ihren Zustand als aufgebauten, eingerichteten, inszenierten Ort zu verlassen und durch die Bewegung der Menschen eine eigene Räumlichkeit zu erlangen.

„Ich kann dein Lächeln auch ins Beziehungsohr bekommen haben.“

Wir haben uns verschiedenen theoretische Grundlagen für Kommunikationsmodelle angeschaut, um unser Kommunikationsverständnis zu klären und eventuelle Parameter zu finden, mit denen wir spielen können.

Unsere Quelle war: https://lehrbuch-psychologie.springer.com/sites/default/files/atoms/files/roehner-schuetz_probekapitel_2.pdf

Unser Eindruck zu den Texten. Stark nach Nützlichkeit für uns eingeordnet.

Watzlawick hat versucht, Axiome für die Ideale Kommunikation zu finden. Das Ideal scheint uns aber erst mal zu sperrig.

Schultz von Thun hat mit den vier Schnäbeln und vier Ohren die unterschiedlichen Seiten von Nachrichten kategorisiert. Das ist praktisch ganz gut, um Missverständnisse zu klären. Als Metapher produziert es einige Bilder, die wir vielleicht nutzen werden.

Grice hat mit einer Beschreibung der Wechselwirkung in Kommunikation ein Model geschaffen, das uns durch seine Nähe zu Erika Fischer-Lichtes Feedbackschleife ganz gut gefällt. Auch wenn wir noch keine Weiterverarbeitung dessen haben. Austausch denken wir sonst ja auch schon mit.

Rogers schreibt über funktionierende Therapiegespräche und ehrliches Interesse, was uns über das Performen von Authentizität nachdenken lässt. Auch in Bezug auf unseren Anspruch der Ehrlichkeit in unseren eigenen Gesprächsangeboten.

Direkte Aspekte von Kommunikation, welche wir durch Aufbauten so manipulieren können, dass ein Mehrwert entsteht, haben wir noch nicht gefunden.

„Wasndas?“

Die Kommunikationstheorien brachten uns zu Kommunikationsmethoden. Wir dachten, dass sich daraus vielleicht Handlungsanweisungen oder Performer:innen-Haltungen ableiten lassen. Wir haben Selbstoptimierungsvideos und Management-Ratgebervideos auf Youtube geschaut. Die Ästhetik war teils sehr gruselig, da sie leistungsbezogen und glattgeleckt ist. Trotzdem sind die überspitzten Darstellungen hilfreich für uns als Handlungsanweisungen:

Mögliche Anweisungen wären beispielsweise: In einem Gespräch immer sehr laut zu sprechen und die Hände immer auf Schulterhöhe zu bewegen, während wir Lächeln … Die Umsetzung funktioniert als Launeverbesserer in unserer Gruppe schon ganz gut.

Was sonst noch geschah?

Merle hat am Freitag, dem Tag unserer Anreise, ihre Masterarbeit abgegeben. Wir haben die Abgabe mit Sekt am Rhein mit Blick auf das Siebengebirge gefeiert. Wir machen jeden Tag Yoga mit Adriene und Benji. Wann gibt es Yogamatten in der Standardbox (Standardbox, die: Eine Kiste voller Gestaltungs- und Moderationsmaterialien, Minipools und Brettspiele, die mit uns auf jeden Einsatz reist)? Willi kann nicht ohne Gemüsebürste. Wir haben den schlechtesten Film der Welt in der Sneak gesehen. Hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=MuGaGq-hqxw Anklicken auf eigene Gefahr. Das lokale Bier heißt nicht Bölsch, sondern Bönsch, aber auch unter diesem Namen scheint es niemand hier zu kennen. Pausemachen fällt uns schwer. Der Minipool von der Spurensuche lässt uns die Hitze besser ertragen. Lange Spaziergänge führten uns in den Kurpark, die Rheinaue und bis zur Godesburg. Wir haben zweimal das Festival „Tanz in Bonn – Into the fields“ besucht und damit das Theater im Ballsaal, unseren zukünftigen Arbeitsraum und auch eine weitere freie Spielstätte, die Brotfabrik in Bonn – Beuel kennengelernt. Mit Alper, unserem Mentoren, haben wir Gin Tonic To Go getrunken. Der Zug ist hier noch nie pünktlich gekommen. Wir vermissen euch alle, aber insbesondere Tobi und David, die mit uns das Konzept erarbeitet haben und leider nicht dabei sein können.

Mit geheimen dramaturgischen Grüßen,                                                   MM WW SM