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Residenz Flausen Künstlerische Forschung Theater im Ballsaal Bonn

Flausen – Logbuch 2

Vorrede

Die Geheime Dramaturgische Gesellschaft (GDG) ist eine 13-köpfige Gruppe von professionellen Gesprächsanstifter:innen, die Dialog, Austausch und die Inszenierung von “Gesprächsarchitekturen” als künstlerische Praxis begreift. Wir leben in ganz Deutschland, arbeiten verstreut, oft mit digitalen Tools. Gemeinsame Präsenzzeit haben wir in unterschiedlich großen Besetzungen auf Festivals und Konferenzen. In den letzten Jahren haben wir so eine wiedererkennbare eigene Ästhetik entwickelt.

Die Flausen Forschungsresidenz am Theater im Ballsaal Bonn gibt drei von uns (Merle Mühlhausen, Willi Wittig und Stephan Mahn) den Freiraum, stellvertretend für die GDG, fokussiert am Kernthema unserer Arbeit zu forschen und dieses künstlerisch weiterzuentwickeln. Da wir nur zu dritt sind, teilen wir im wöchentlichen Logbuch unsere Erfahrungen mit den Kolleg:innen der GDG.

Der zweite Brief, 07.07.2022

Liebe Geheimdramaturg:innen,

liebe Anna, liebe Phine, liebe Luise, liebe Saskia, liebe Petra, lieber Conni, lieber Vincent, lieber Jonas, lieber Tobi, lieber Robert,

die Woche begann für uns mit einem Arbeitsumzug von der Probebühne in das acht Kilometer entfernte Theater im Ballsaal. Mit unserer Standardbox und Post-Its im Wert von zehn Tagen Arbeit haben wir uns also auf den Weg gemacht. Die Bühne des Ballsaals, auf der wir nun forschen dürfen, mögen wir sehr, weil es dank der Oberlichter sogar ein wenig Tageslicht gibt. Nur die (schöne blaue) Wand hat kurzfristig für Aggressionen bei Stephan gesorgt, weil sie sich als hochgradig Kreppbandabweisend erwiesen hat und unsere Zettelwirtschaft mit zuverlässiger Penetranz wieder auf den Boden spuckte. Ein Umzug der GDG-Zettelwände ins Foyer hat Abhilfe geschaffen.

Foucault hat mal gesagt: „Scheiße, ich habs verkackt!“

Nachdem wir in der letzten Woche viel Zeit damit verbracht haben, Grundlagentexte zu lesen und Kommunikationsmodelle kennenzulernen, wollten wir diese Woche endlich ins Machen kommen und konkrete Aufbauten im Bühnenraum austesten. Dafür haben wir zwei Modi erfunden: Racooning (Racooning, das: innerhalb eines begrenzten Zeitraums Materialien aus Fundus, Techniklager und Sperrmüll im Theater und um das Theater herum zusammensuchen) und den Fast-and-Furious-Modus, bei dem ebenfalls in begrenzter Zeit in Einzelarbeit ein Aufbau aus den gesammelten Materialien entstehen soll. Ihr seht – auch hier funktioniert die altbewährte Rahmung durch Spielregeln. Bei diesem ersten Versuch sind vier Aufbauten entstanden: Eine Höhle, ein Diskursboot, ein abstraktes Laberfeuer (Laberfeuer, das: am Lagerfeuer stattfindendes Gesprächsformat) und ein Gesprächsring.

Rahmen – Regeln – Raum

Ausgehend von unserem selbst gewähltem Regelsystem haben wir unsere groben Skizzen von Gesprächsarchitekturen ausgewertet, nachdem wir sie ausprobiert haben: Wie ging es dir beim Machen? Wie hast du dein Material ausgewählt? Wie hast du die Gesprächsarchitektur wahrgenommen? Aus welcher Perspektive hast du die Gesprächssituation betrachtet/betreten?

Aus diesen Diskussionen entstanden neue Skalen für Gesprächsarchitekturen:

Bequem/Unbequem

Neu/Unbekannt

Flexibiltät/Permanenz

Provozierend/Deeskalierend

Sichtbar/Unsichtbar

Innen/Außen

Nähe/Distanz

Umnutzung/Umdeutung

So haben wir im Anschluss an die Strategie „Umdeutung“ begonnen, Materialien und vor allem vorhandene Orte innerhalb des Theaters umzubenennen. Die Bar im Foyer wurde zur AUSTAUSCHBAR oder die Treppe zur Technik zur DISKURSTREPPE. Wir sind gespannt, wie die Mitarbeiter:innen des Theaters darauf reagieren. Wir halten die Augen und Ohren offen und werden euch von ihren Reaktionen berichten.

Feststellungen:

Erstens: Weil wir fast nie in Bühnenräumen arbeiten, spielen die Regeln und Traditionen, die eine Bühne mitbringt, in unsere Hände. Ihr Regelsystem können wir thematisieren, konfrontieren und torpedieren. Störungen und Irritationen führen zu neuen Gesprächsimpulsen. Zweitens: Konfrontative Formate brauchen klare Regeln, denn Menschen gehen in privaten und öffentlichen Gesprächssituationen Konflikten eher aus dem Weg. Drittens bis fünftens: Wir haben beim Ausprobieren gemerkt, dass Gemütlichkeit nicht unbedingt durch räumliche Enge bedingt ist, dass das Befinden in Gesprächssituationen immer irgendwie mit dem Blick zusammenhängt (Kann ich die Situation überblicken? Habe ich den Freiraum, in die Weite zu schauen?) und dass schon die simpelste Anordnung von Körpern im Raum Assoziationen zu sozialen Situationen erweckt.

Neue Fragen:

Wo liegt das Konfliktpotenzial eines Raums? Ist ein flexibel nutzbarer Raum gemütlicher? Wie lassen sich Regelsystem hacken? Welche Rolle spielen akustische Elemente in einer Gesprächsarchitektur? Wie können Objekte als Gesprächsanlass funktionieren? Kann ein Gespräch eine Performance für Zuschauende sein? Wann wird eine Gesprächssituation eine Teambuildingmaßnahme?

Der Blick macht die Nähe

Um unseren Workshop am 09. und 10.07 mit Alper Kazokoglu von Umschichten vorzubereiten, haben wir uns in einem Zoom Meeting über unsere bisherigen Arbeitsschritte und die Erwartungen seiner- und unserseits ausgetauscht. Glücklicherweise kommt uns für diese Tage auch noch Tobi besuchen. Das heißt, für zwei Tage vergrößert sich unsere kleine Forschungsgemeinschaft. Das praktische Wochenende wird sich mit Fragen beschäftigen wie:

– Wie können wir mit unserer Standardbox inkl. oft vor Ort vorhandener Materialien (Tische, Stühle) einladende, animierende, irritierende oder auch störende Gesprächsarchitekturen schaffen?

– Aus welchen Gründen entscheiden wir uns für einen spezifischen Ort im Raum für die Installation einer Gesprächsarchitektur?

– Wie konkret muss etwas Gebautes sein, damit es Menschen zum Interagieren und Austauschen einlädt?

– Wie kann man Bauwut befeuern oder bremsen?

– Wie schaffen wir mit unseren Eingriffen in den Raum einen Wiedererkennungswert?

– Kann der Fokus unserer Architekturen auf das geschriebene und gesprochene Wort verschoben werden?

– Kann unsere Standardbox um neue Materialitäten ergänzt werden?

Wir freuen uns auf Impulse, die Schärfung unserer Sensibilität für das Räumliche und das Ausprobieren von neuen künstlerischen Strategien. Auf in den Racoon-Modus. Wir können es kaum erwarten!

Was sonst noch geschah oder Das schmeckt nach Spüli, aber auf ne geile Art

Merle hat ihren ersten Espresso Tonic getrunken. Es gab wilde Schlachten mit neonfarbenen Wasserpistolen im Innenhof vom Theater im Ballsaal. Neben dem täglichen Yoga gab es eine erste (und letzte) Einführungseinheit ins Salsatanzen. Schnell ausgesprochene Ideen wurden sofort in die Tat umgesetzt. Wollen wir beim Abbau unserer Installationen Eurotrance hören? Klar. (Diese Entscheidung haben wir bald darauf bereut und uns entschlossen, für die restliche Zeit der Residenz nur noch andere Musik für Auf- und Abbauten zu benutzen.) Wir waren erneut im Kino. Gleich zwischen Theater im Ballsaal und Pub befindet sich das Rex-Theater, ein Kino mit Rang. „Everything Everywhere All at Once“ hat uns viel Freude bereitet und durch seine mannigfaltigen popkulturellen Anspielungen eine neue Liste an noch zu schauenden Filmen und Serien eröffnet (Stephan hat geschlafen, weil er einfach zu müde war). An der Austauschbar im Foyer des Theaters hören wir immer wieder Lieder, die wir mit ganz bestimmten Zeitpunkten in unserem Leben verbinden -> Merle: „Oh my“ (Gin Wigmore) Stephan: „My Delusions“ (Ampop), Willi: „Hey Ya!“ (Outkast). Wir haben australische Pies mit Bonner Kartoffelpüree gegessen und sind immer noch auf der Suche nach einer Kneipe, die Bönnsch serviert. Nächste Woche schauen wir uns innerhalb der Werkstatt der Demokratie den alten Plenarsaal auf dem UN-Campus in Bonn an.

Mit geheimen dramaturgischen Grüßen,

MM WW SM