Eine Woche lang waren wir auf dem internationalen Figurentheaterfestival Blickwechsel zu Gast. Wir haben Gespräche geführt, angestiftet, aufgeschnappt und mitgehört; haben Produktionen gesehen, Ästhetiken, Formen und Inhalte diskutiert; haben über Strukturen, Arbeitsbedingungen, Hierarchien und Begriffe gestritten. Vieles davon haben wir im Basislager, das das Foyer in Beschlag genommen hat dokumentiert.
Wir haben unsere Gespräche und Beobachtungen zu Thesen verdichtet. Der Titel, unter dem das Diskursprogramm auf diesem Festival stand, lautete Aufbruch. Ein Aufbruch ist eine offene Suche, ist die Provokation des Neuen, des Unbekannten, des Unabgeschlossenen. Und somit kann auch unser Beitrag nur das sein: Eine unabgeschlossene und nicht kohärente Sammlung; Eine Menge, die uns gegenübersteht und uns angeht; ein Plädoyer, das auffordert sich zu ihm zu verhalten.
Die nun folgende Liste greift Diskurse auf, die uns während der Festivaltage beschäftigt haben. Eine Auswahl von 15 Thesen präsentierten wir als Impuls beim Double-Diskurs, der im Rahmen des Festivals stattfand.
1. Das Label Puppen- bzw. Figurentheater ist eine Perspektive auf ästhetische Produkte.| 2. Vieles was wir hier auf dem Festival sehen, könnte auch in anderen Kontexten unter anderen Labels gezeigt und geschaut werden. | 3. Wenn wir von „Puppentheater“ sprechen, fehlt uns ein Begriff für das „andere“ Theater von dem es sich begrifflich abgrenzt. | 4. Solange wir uns permanent vom Kasper abzugrenzen versuchen, werden wir mit dem Kasper assoziiert. | 5. Puppentheater ist nicht nur Kindertheater. | 6. Materialtheater versteht sowieso keiner. | 7. Das Diskutieren über den Begriff hält uns ab über anderes zu sprechen. | 8. Es wird von einer aktuellen Problematik des Regienachwuchs gesprochen. Dabei unbesprochen bleibt die Frage, was sich geändert hat und woher die Problemtik aktuell rührt. Der Diskurs ob das Modell Regie an sich noch zeitgemäß ist, wird beiseite geschoben. | 9. Der Ruf nach einer Regieausbildung Puppentheater kommt von den Ensemblepuppentheatern, nicht aus der Freien Szene in der ohnehin in anderen Strukturen gearbeitet wird. | 10. Es braucht keinen zusätzlichen Fokus auf Puppe, es braucht eine generelle Erweiterung des Fokus der Regieausbildung. | 11. Es braucht in der bisher bestehenden Regieausbildung an deutschen Hochschulen einen Paradigmenwechsel in dem der Fokus nicht mehr alleinig auf die Körper von Schauspieler*innen und den dramatischen Text ausgerichtet ist.| 12. Es braucht nicht die Dramaturgie für die Puppe, es braucht eine generelle Öffnung der Dramaturgie für andere Formen. | 13. Eine Handvoll Menschen entscheidet über Karrieren von Regisseur*innen. | 14. Studierende des Puppen- oder Figurenspiels haben ein Interesse daran die Regieposition einzunehmen. | 15. Die Suche nach Innovation und neuen Formen löst sich nicht ein durch eine konkrete Regieausbildung. | 16. Die Inter- bzw. Transdisziplinarität entsteht gerade dadurch, dass Menschen aus unterschiedlichsten Disziplinen Objekte, Materialien und Puppen für sich entdecken. | 17. Hinter allem steht die Frage: „Wie wollen wir arbeiten?“. Doch diese wird nicht öffentlich gestellt / ausgesprochen. | 18. Arbeitsstrukturen werden befragt. | 19. Die Strukturen bleiben hierarchisch und arbeitsteilig. | 20. Innovation braucht tatsächliche und nicht nur rhetorische Räume zum Scheitern. | 21. Es braucht alternative Formate auch im Ensemblebetrieb. | 22. Kollektive Arbeit braucht keine Regiequalifikation, es braucht ein Wissen um Diskurse und Inszenierungststrategien, Praktiken in Praxis und Theorie. | 23. Das Kollektiv bleibt Experiment. | 24. Je niedriger der hierarchische Stand desto größer ist die Unzufriedenheit mit den momentanen Arbeitsbedingungen und -strukturen. | 25. Die Szene die sich hier trifft und miteinander spricht besteht aus Spieler*innen, Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Spartenleiter*innen, Intendant*innen, Dozent*innen, Festivalmacher*innen. | 26. Die Szene die sich hier trifft und miteinander spricht, umfasst hingegen scheinbar nicht: Techniker*innen, Werkstätten, Verwaltung, Pädagog*innen u.v.m. | 27. Die Szene ist klein. | 28. Die Szene ist sich selbst genug. | 29. Die Szene definiert sich stark darüber, die weniger wahrgenommenen zu sein. | 30. Die Szene hat – obwohl sie so klein ist – wenig Zusammenhalt. | 31. Die Szene muss sich nicht nur innerhalb unterhalten, sondern als Szene mit einem Außen. | 32. Die „Oberen“ der Szene machen es sich bequem indem sie sagen, man könne keine Thesen formulieren (und verschriftlichen), weil man ja schon mitten im Diskurs sei. | 33. Es wird nicht gegendert. | 34. Die Künstler*innenposition wird der Regie und weniger den Spieler*innen zugeschrieben. Dies äußert sich in der namentlichen Nennung von Einzelpersonen versus der Anonymisierung im Sammelbegriff Ensemble oder dem unerwähnt bleiben. | 35. Man flüchtet sich ins Schauspiel. | 36. Es gibt ein Bedürfnis nach mehr Puppe. | 37. Es gibt ein Bedürfnis nach weniger Text. | 38. Es gibt individuelle Bedürfnisse und die Unklarheit, ob dies auch kollektive Bedürfnisse sind. | 39. Die Form bleibt frontal. | 40. Es geht vor allem um Formen, nicht um Inhalte. | 41. Szenische Mittel wie Text, Körper, etc. wird ein anderer Materialitätsstatus zugeschrieben, über den sich abgegrenzt wird. | 42. Es gibt (scheinbar) ein wachsendes Interesse an Figuren- und Puppentheater. | 43. Es besteht das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Nicht als einzelne Häuser, sondern als Genre, als Szene. | 44. Die Bezeichnung ist mehr als eine Zuschreibung. Sie hat Auswirkungen auf Erwartungshaltungen und Wahrnehmungen des Publikums / der Öffentlichkeit. | 45. Es braucht eine Neulabelung, um die tradierten und auch belasteten Begriffe hinter sich zu lassen; einen Begriff der auch außerhalb eines akademischen Umfelds anschlussfähig ist. Nouveau cirque und contemporary dance könnten hierbei als Vorbilder dienen. | 46. Es braucht eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit. Es braucht die Einbindung der Mitarbeiter*innen der Presse und Öffentlichkeitsarbeit in die Diskurse der Szene und deren Gestaltung. | 47. Es braucht spartenübergreifende Projekte um die spezifische Produktionsästhetik des eigenen Genres an andere Theaterschaffende zu vermitteln. | 48. Es braucht Vermittlungs-, Produktions- und Kooperationsformate um Publikumsbiografien zu schaffen, in denen Puppen- und Figurentheater durchgängig auftaucht. | 49. Es braucht Solidarität. Innerhalb der einzelnen Häuser und in der gesamtdeutschen Szene. Egal ob Frei oder institutionell. | 50. Es braucht faire Bezahlung. | 51. Es bedarf eine Erweiterung des Materialitätsbegriffes. | 52. Es braucht regelmäßige Treffen um voran zu kommen. | 53. Es braucht kein „man müsste“ oder „man könnte“ wie es in den letzten Tagen häufig zu hören war. Es braucht konkrete und vor allem gemeinsame Handlung. |
Diese Liste kann und muss weitergeführt werden. Denn eindeutige Antworten sind in unserer Gegenwart ohnehin kaum noch zu finden.