Kategorien
Woche für nicht-infektiöse Begegnungsformate

Die Abkotz-Schwelle – Ein Tag am Anonymen-Abkotz-Telefon

Es ist 23:50, als ich den letzten Anruf entgegen nehme. Wir sprechen 30 Minuten miteinander. Insgesamt nehme ich 10 Anrufe entgegen und spreche mit 9 Menschen (einmal ist nur Stille am anderen Ende der Leitung). Der kürzeste Anruf dauert 47 Sekunden, der längste 50 Minuten. Der Durchschnitt liegt bei circa 20 Minuten Gesprächszeit.

Die Aufreger waren ziemlich individuell. Die größten Gemeinsamkeiten (mit jeweils drei Genervten) gab es an zwei Punkten, nämlich dass – trotz des Ausnahmezustands – gerade ein gefühlter Produktivitätszwang herrscht und das man nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Und es ging vielen in dem worüber sie sich aufregten, nicht nur um sich selbst, sondern oft auch um die Sorgen um andere. Dabei ging es um Mitarbeiter*innen, die etwas zu tun haben, freie Künstler*innen, die gerade nicht aufgefangen werden, ländliche Räume, die aufgrund des schlechten Netzes, nichts vom ganzen Gestreame haben oder den*die Expartner*in, die weil alleine, gerade keine körperliche Intimität erfahren kann. Individuelle Genervtheiten waren kaputte Fahrräder, Schreibblockaden oder die Schwierigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens.

Über das Format

In der Entwicklung des Woche für Nicht-Infektiöse Begegnungsformate, wollten wir auch 1zu1-Formate ausprobieren. Wie den Beichtstuhl, den wir sonst auf Theaterfestivals anbieten. Dort wartet eine*r von uns, um gebeichtete Festivalsünden entgegen zu nehmen. Nach Abschluss der Beichte gibt es einen Pfeffi (bei Schüler*innen: Fischermans Friend), als Symbol der Reinigung. Als Beichtstuhl-Betreuer*in wartet man oft sehr lange, bis sich jemand über die Schwelle traute. Dann entstanden aber oft, sehr lange und intensive Gespräche, beispielsweise über Probleme im Ensemble oder die Angst sich in Nachgesprächen zu äußern. Das war gestern ähnlich, mit denen die sich getraut hatten anzurufen, unterhielt ich mich recht offen über aktuelle Sorgen und Genervtheiten.

Aber die Schwelle war vermutlich höher als beim Beichtstuhl. Auch deshalb weil der spielerische Zugriff auf einen Festival-Sünden-Beichtstuhl klarer ist, als ein Anonymes-Abkotz-Telefon. Das merkte ich auch an meiner Seite des Telefons. Der Modus der gemeinsamen Aufregens trägt nur den Beginn eines Gesprächs, danach möchte ich weiter und auch vorausschauend reden. Und während die Worte im Spielvorgang „Beichtstuhl“ klar sind (Sünde, Vergebung, Buße), hatte ich für mich am Telefon keine so klaren Gesprächsregeln (außer „Herzlich Willkommen am Anonymen-Abkotz-Telefon der Geheimen Dramaturgischen Gesellschaft. Worüber möchtest du dich aufregen“).

1zu1-Formate bleiben trotzdem auch für nicht-infektiöse Begegnungen spannend. Dabei funktionieren zu-geloste Spaziergangsgespräche erstmal besser als Spielangebote beziehungsweise gilt es in weiteren Testläufen den richtigen Aufbau zu finden.

Du hast angerufen und möchtest deine Seite des Gesprächs schildern oder du möchtest uns verraten, warum du nicht angerufen hast? Schreib mir gerne eine Mail an vincent@geheimedramaturgischegesellschaft.de